Conrad
Kisscut
06.05. - 27.05.2022
Mit dem Titel Kisscut steht die Ausstellung des Künstlers Conrad unter dem Zeichen eines scheinbaren Gegensatzes. Während der Kuss auf Nähe, Intimität und Zärtlichkeit verweist, kommt mit dem Schnitt ein Bruch hinzu. Miteinander zum Begriffspaar vereint, evozieren die divergierenden Worte die Imagination in ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Der Begriff „Kisscut” entstammt jedoch nicht der Emotionswelt, sondern ist dem Bereich der Fertigungstechnik entlehnt. Dort bezeichnet er ein Schneideverfahren, das bei der Produktion von Aufklebern Anwendung findet. Bei sogenannten Kiss-Cut-Stickern bleibt die Trägerfolie komplett erhalten, während lediglich die darauf liegende Motivschicht durchschnitten wird. Ein solches Klebebild lässt sich vom überstehenden Supportmaterial besonders leicht abziehen. Der Ausstellungstitel mag somit von Unterstützung und Halt bei einem Trennungsvorgang erzählen. Sind sanfte Bindungen inmitten von scheinbaren Gegensätzlichkeiten vielleicht sogar permanent präsent? Wird ihre Allgegenwärtigkeit in unserer rational-systematischen Weltanschauung, die divergierende Kategorien gegenüberstellt, bloß nicht wahrgenommen?
Bei den Arbeiten, die in Kisscut gezeigt werden, handelt es sich um Hybride aus Malerei, Zeichnung, Druck und Assemblage. Jedes Werk vereint eine Vielzahl an handwerklichen und künstlerischen Techniken, sowie Materialien, die sich different zueinander verhalten. Die matte Oberfläche von Baumwolle etwa absorbiert das Licht, applizierte Kunststoffschnüre rufen hingegen glänzende Reflektionen hervor. Sämtliche Elemente treten in ihren Eigenheiten in Erscheinung. Von ihren vorbestimmten Funktionen zweckentfremdet, finden sie in den Werken zueinander und gehen eine Liaison ein.
Aus der Serie Timedancer solo (2022) sind vier großformatige Arbeiten zu sehen. Jede von ihnen wird von der gleichen Grundform bestimmt: genormten Polystyrolplatten. In dreifacher Abfolge aneinandergereiht, ergeben sie jeweils ein Hochformat. Von den Platten, die eigentlich zur Wärmedämmung von Gebäuden genutzt werden, sind jedoch nur Abdrücke auf Baumwolle zu sehen. Die Frottage der gitterartigen Oberfläche zeugt somit von der einstigen Anwesenheit des wärmedämmenden Materials. Nun zeichnet sich das zurückbleibende Muster wie Gänsehaut ab. Ist es der Stoffüberzug, der hier friert, obgleich er sonst selbst Körper umhüllt und diese vor Kälte schützt? Ganz allein ist das Textil jedenfalls nicht: In die Wandarbeiten sind etliche Perlonschnüre integriert. Sie treten räumlich hervor oder verschwinden auf der Rückseite. Ihren artverwandten Glasfasern ähnelnd, scheinen sie einem existenziellen Versorgungssystem zu dienen. So treffen sie an Knotenpunkten zusammen, als ließen sich dort Transportstoffe übertragen. Wie bei Leitplatinen scheint es möglich, die Richtung zu wechseln. Doch wenn hier kein elektrischer Strom fließt, was dann? Die Aktivierung unsichtbarer Kreisläufe begründet sich zweifelsohne auf der Betrachtung der Werke und auf der menschlichen Vorstellungskraft. Dabei ist es nicht nur die Rezeption, die den Mensch in die Kunstwerke einschleust: Auf jedem Bild erhält dieser sichtlich Einzug, denn die Schnüre ahmen die Silhouetten lebensgroßer menschlicher Figuren nach. Diese bewegen sich tänzerisch über die ihnen zur Verfügung stehende Fläche und bestimmen damit die Komposition. Handelt es sich bei dem wiederkehrenden Abbild um den Künstler selbst, verewigt im erweiterten Malprozess? Leuchtende Augenpaare könnten bei der Identifizierung behilflich sein, schließlich gewähren sie als tiefe Einschnitte einen Blick ins Innere. Doch ihre satte Farbe und deren intensive Deckkraft baut gleichzeitig eine Distanz zu den Betrachtenden auf. Ohne Pupillen blicken die obskuren Augen ins Leere und schweigen über ihre Zugehörigkeit. Umgeben von Abdrücken, die an geröntgte Fossilien erinnern, gleicht das Gesamtbild einem dynamischen Totentanz.
In der großformatigen Arbeit inhale/exhale (2022) sind unterschiedliche Textilien wie bei einem Flickenteppich sorgsam zusammengenäht. Sie überlappen sich und bilden im Zusammenspiel eine kontrastreiche grafische Komposition. Die groben Schnittkanten der Stoffe enden oftmals mit ausfransenden Fäden, wohingegen die Nähte an anderen Stellen dem Betrachter:innen-Auge entzogen bleiben. Durch lichte Stoffe scheint die hölzerne Konstruktion eines Keilrahmens hindurch. Andere Bereiche sind von einer Fülle an Applizierungen geprägt. So hangeln sich Stoffseile an einigen Nahtlinien entlang; sie heben die Verbindungsstellen der einzelnen Felder hervor. Computergenerierte 3D-Drucke – kaum als solche erkennbar – wenden sich allerdings von vorzufindenden Anordnungen ab. Sie vereinen sich in freier Positionierung mit ihrem textilen Untergrund, in den sie mittels Bügeleisen eingeschmolzen wurden. Gleichzeitig verschwimmen sie mit rhythmischen Linien aus Acryl. Diese schwungvollen Muster fügte Conrad dem Bild
mit Hilfe einer selbstgebauten Zeichenmaschine hinzu, die am Computer erzeugte Grafiken überträgt. Sämtliche Ornamente könnten auf mathematischen Formeln aus der Naturwissenschaft beruhen, doch sind sie frei erfunden. Technik und Natur, Mensch und Maschine – Dichotomien werden aufgelöst und zum dichten Konglomerat zusammengetragen.
CHIP0102022 (yellow eye) (2022) und CHIP0172022 (stream) (2022) sind Teil einer fortlaufenden Serie kleinformatiger Arbeiten, die in ihrer Größe variieren. Bei der Betitelung folgt der Künstler einem System, das die Leinwandarbeiten einerseits durchnummeriert, andererseits auf das Entstehungsjahr datiert. Ein ergänzender Begriff in Klammern verweist assoziativ auf das jeweilige Bildgeschehen. Die acht in Kisscut enthaltenen CHIPs sind abermals den unterschiedlichsten Techniken zu verdanken, denen sich Conrad bedient, wobei diese hier ganz ohne systematisches Vorgehen Anwendung finden. Damit zeugen die Arbeiten vom Experimentiercharakter, der seinem Schaffen innewohnt, und beweisen zugleich sein charakteristische Gespür für ausgewogene Bildkompositionen. Wie Kacheln lassen sich die abwechslungsreichen Arbeiten verschiedenartig zueinander positionieren, um immer wieder neue Zusammenhänge sichtbar zu machen. Nicht zuletzt wird damit auch das Publikum zu kreativen Denkweisen angeregt.
Während die Leinwand in der traditionellen Malerei üblicherweise als Bildträger – und damit als grundlegender Startpunkt eines malerischen Vorgangs – dient, beginnt die Bildkonstitution bei Conrad weitaus früher. Die Entwicklung seiner Arbeiten beruht stets auf der Auswahl an Textilien aus einem Sortiment an Naturleinen, Baumwolle oder Jeansstoff. Bereits in früheren Arbeiten verwendete Stoffe finden sich im Verwendungskreislauf wieder. Eingefärbt, geblichen oder im Originalzustand belassen, bilden die verschiedenen Stoffe das Ausgangsmaterial für die weitere Bearbeitung. Schere und Cutter kommen als essentielle Werkzeuge hinzu; Kleber und Nähfaden stellen gleichgestellte Mitspieler dar. Die diversen Bestandteile fließen ebenbürtig zusammen und bedingen sich gegenseitig – wie auch Computertechnik und Handwerk. Mit Kisscut präsentiert uns Conrad somit eine Vielzahl an symbiotischen Bindungen, deren Einzelteile isoliert voneinander übersehen bleiben. Den Verhältnissen der Dinge spürt er in den medienübergreifenden Arbeiten nach und deckt dadurch Momente existenzieller und ästhetischer Zusammengehörigkeit auf.
Philipp Lange